- Es gilt das gesprochene Wort -
Ansprache Oberbürgermeisterin Barbara Bosch
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie alle sehr herzlich zum inzwischen traditionellen Bürgerempfang der Stadt Reutlingen am 6. Januar hier im Rathaus. Seit dem Ende des dritten Jahrhunderts wird an diesem Tag das Tauffest Christi gefeiert, er ist dann später neben Weihnachten als Festtag beibehalten worden. Der höchste der Weihnachtsfeiertage, der „Öberste“, wie wir in Reutlingen sagen, hat gerade in unserer Stadt noch eine ganz profane Bedeutung. Er ist der Ausgangspunkt für die Festlegung des Mutscheltages, immer am Donnerstag danach. Letztes Jahr lag der Mutscheltag unmittelbar nach dem Bürgerempfang, in diesem Jahr haben wir den größtmöglichen Abstand bis zum nächsten Donnerstag.
An Neujahr und beim Mutscheln wünscht man sich vor allem eines: Glück. Glück und Glas – wie leicht bricht das, sagt der Volksmund. Wilhelm Busch ist da ganz pragmatisch: „Fortuna lächelt, doch sie mag nur ungern voll beglücken:
Schenkt sie uns einen Sommertag, schenkt sie uns auch Mücken.“
Auch auf der städtischen Grußkarte zu Weihnachten und Neujahr war vom Glücklichsein die Rede. Passend zu unserer Finanzlage deshalb noch ein weiser Rat vom griechischen Philosophen Epikur:
„Wenn du einen Mensch glücklich machen willst, dann füge nichts von seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“
Doch zurück zum Datum.
Heutzutage erkennt man, auch ohne auf das Kalenderblatt zu schauen, an der Gleichzeitigkeit verschiedener Merkmale, dass Silvester naht. Die Bundeskanzlerin hält eine Ansprache an ihr Volk, im Fernsehen stolpert ein älterer Herr im altmodischen Smoking mehrmals über ein Tierfell, die Reutlinger haben tagsüber in den Lebensmittelgeschäften eingekauft, wie wenn die Württemberger noch einmal angreifen würden, wofür auch die Bewaffnung überwiegend männlicher Personen mit Raketen und anderer angsteinflössender Utensilien sprechen könnte. Für die Schlafmützen wird spätestens am nächsten Tag klar, dass Silvester bereits war, wenn der ganze Unrat dann herumliegt.
Auch wir läuten akustisch unseren Bürgerempfang ein, mit dem Bläserquartett der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, dem ich für den gelungenen Auftakt mit einer Suite danke. Sie werden mit Trompeten und Posaunen von Jericho die Feierstunde beschließen. Meine Damen und Herren, haben Sie keine Sorge, dass davon das Ratsgebäude einstürzen könnte. Die umfassende energetische Sanierung, die erste überhaupt seit dem Bau des Rathauses in den 60er Jahren, ist termingerecht im Dezember abgeschlossen worden. Nun sind wir nicht nur technisch wieder auf einem zeitgemäßen Stand, sondern sparen sehr viel CO2-Emissionen ein – dass ist gut für die Umwelt, und spart Geld. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht – ich bin froh über unsere Entscheidung im Gemeinderat, auf die alte Ausstattung einschließlich des Mobiliars nicht zu verzichten, es dafür herrichten zu lassen. Der großen Sitzungssaal hat die Würde seiner Entstehungszeit behalten, die Atmosphäre lebt von der wunderbaren Maserung des Holzes und einer verbesserten Belichtung.
Das Ratsgebäude ist allerdings nur eines von vielen Beispielen, bei welchem wir ganz konkret durch energetische Sanierungen etwas für den Klimaschutz tun, zum Teil gefördert durch das Konjunkturprogramm des Bundes. 12 Schulen befinden sich aktuell in diesem Programm, und von diesen Maßnahmen profitieren nicht nur Schüler und Lehrer durch verbesserte Räume, sondern wir alle durch den Beitrag fürs Klima.
Die Gesamtbilanz der Reutlinger Klimaschutzmaßnahmen der letzten Jahre ist bemerkenswert. Der im November vorgelegte Klimaschutzbericht hat dies eindrücklich unter Beweis gestellt. Reutlingen ist hier vorbildlich unterwegs, wozu auch die städtischen Töchter GWG und FairEnergie maßgeblich beitragen. So ist bei der Wernerschen Mühle in Betzingen die Wiederherstellung eines historischen Technikdenkmals gelungen mit der Erzeugung von regenerativen Energien durch Wasserkraft verknüpft worden. Die FairEnergie beteiligt sich auch am Offshore-Windpark in der Ostsee. Und Reutlingen ist im letzten Jahr auf einen bemerkenswerten dritten Platz in der Solar-Bundesliga deutscher Großstädte nach vorne gerückt.
Prima Klima herrschte allerdings im vergangenen Jahr nicht bei allen Themen in der Stadt. Ich denke hierbei besonders an unsere Finanzlage. Die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben uns mit voller Wucht getroffen. Ein Nachtragshaushalt musste im März beschlossen werden, die Vorbereitungen für den Doppelhaushalt 2011/2012 standen unter diesen Vorzeichen. Ich bin dem Gemeinderat sehr dankbar, dass er sich mit der Verwaltung in zwei Klausuren der Mühe unterzogen hat, viele einzelne Haushaltsposten abzuklopfen und mögliche Kürzungen und Streichungen zu diskutieren. Dabei ist sehr deutlich geworden, dass da nicht mehr viel übrig bleibt, will man nach acht Jahren durchgängiger Konsolidierung nicht einen Substanzverlust in Kauf nehmen. Die Verwaltung hat nach diesen Vorbereitungen in der letzten Sitzung des Gemeinderates im Dezember den Entwurf des Doppelhaushaltes eingebracht, er geht nun in die Beratungen im Gemeinderat. Er ist unverändert von der Devise des Maßhaltens geprägt. So mussten alle berechtigten Wünsche nach Stellenschaffungen erneut zurückgewiesen werden, mit Ausnahme des Ausbaus in der Kinderbetreuung und bereits beschlossener zusätzlicher Aufgaben. Am 18. Januar wird die öffentliche Generaldebatte hierüber stattfinden. Auch wenn sich in Deutschland erfreulicher Weise wieder ein deutlicher Aufschwung abzeichnet, so wird dies für die Städte und Gemeinden zumindest in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht die Trendwende bringen. Zum einen haben die deutschen Kommunen 2010 mit einem bislang nie da gewesenen Rekorddefizit abgeschlossen. Aus dieser hohen Verschuldung müssen wir uns erst einmal herausarbeiten, auch in Reutlingen. Außerdem kommen verbesserte Steuereinnahmen bei uns erst mit einer zeitlichen Verzögerung von mindestens zwei Jahren an. Noch einmal daran erinnern will ich, dass es auch gesetzliche Änderungen zur Entlastung unter anderem der Firmen gab, welche die Steuereinnahmen massiv reduziert haben. Dieses Geld kommt nicht wieder. Vor allem aber, und das macht für die Zukunft sehr nachdenklich, explodieren die Sozialausgaben der Städte und Gemeinden, eine Verlangsamung oder gar ein Stopp ist keineswegs absehbar, im Gegenteil. Es bedarf deshalb dringend der stärkeren Unterstützung des Bundes und des Landes bei den Aufgaben, die wir schließlich von dort auch zugewiesen bekommen. Sonst erleben wir den Bankrott der kommunalen Selbstverwaltung.
Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass Klagen und Jammern ein unbrauchbarer Weg wäre, um eine schwierige Situation zu meistern. Mit dem Doppelhaushalt versuchen wir, nichts zu zerschlagen, was für die Zukunft Reutlingens von Bedeutung ist, dennoch aber einen genehmigungsfähigen Haushalt zu erreichen. Ich will dabei nicht nur in der eigenen Stadt handlungsfähig bleiben, sondern mich auch aktiv an der politischen Diskussion über eine angemessene Berücksichtigung kommunaler Interessen einbringen. Was in den Städten passiert, beeinflusst nämlich die Lebensverhältnisse der Menschen vor Ort ganz unmittelbar. Deshalb habe ich mich in schwierigen Zeiten bereit erklärt, für das Amt der Präsidentin des Städtetages Baden-Württemberg zur Verfügung zu stehen; die Wahl ist in knapp zwei Wochen. Ich trete damit in die Fußstapfen des Reutlinger Oberbürgermeisters Kalbfell. Er war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur maßgeblich an der Gründung dieser kommunalen Vertretung auf Landesebene beteiligt, sondern über zwei Amtszeiten auch deren erster Präsident. Reutlingen knüpft an seine damalige Rolle an.
Dass es gelingen kann, den Spagat zwischen problematischen Finanzen und der weiteren Entwicklung einer Stadt zu halten, haben wir auch 2010 unter Beweis gestellt. Bei der Kinder- und Schulbetreuung konnten wir weiter zulegen, wie zuletzt im Dezember die beiden Einweihungen des Kindergartens im Reicheneck und der Hofschule in Altenburg augenfällig gemacht haben. Das BZN in Rommelsbach hat ein tolles Beachvolleyballfeld erhalten. Die Planungen für den Sport der Zukunft sind durch den Abschluss der Arbeiten für die Sportentwicklung auf eine neue Basis gestellt worden. Natürlich, wie immer, mit Beteiligung der Bürger und der Vereine. Die neue Kletterhalle des Alpenvereins ist hervorragend angekommen und Sickenhausen ist stolz auf ein gelungenes neues Feuerwehrhaus. In Rommelsbach konnten wir neue Straßenabschnitte einweihen, und bei der Sanierung der Altstadt arbeiten wir uns in der Wilhelmstraße Schritt für Schritt nach vorne, wenn auch die Abschnitte wegen der Finanzlage etwas kleiner geworden sind. Das Ziel aber lassen wir nicht aus den Augen. Aufträge erhält das regionale Handwerk auch für den Bau der neuen Stadthalle, die sichtbar aus dem Boden wächst. Aus heutiger Sicht werden wir unser Wort halten. Die Stadthalle wird nicht teurer werden als geplant. Und auch der Bau des Scheibengipfeltunnels geht planmäßig weiter, damit wir in der Innenstadt wieder besser schnaufen können, sprich weniger Feinstaubbelastung haben.
Auch der Wirtschaftsstandort Reutlingen hat sich im Krisenjahr wacker präsentiert. Die Firma Bosch hat im Frühjahr ihr Halbleiterwerk im Beisein des damaligen Bundespräsidenten Köhler eingeweiht; die derzeit größte Firmeninvestition in Baden-Württemberg mit der Folge der Sicherung von bestehenden und der Schaffung neuer Arbeitsplätze in Reutlingen. Am Ende des Jahres war Bundeskanzlerin Merkel zu Besuch bei Firma Manz. Auch viele andere Firmen haben sich, gemeinsam mit ihren Beschäftigten, mutig und klug durch die Krise geschlagen und tragen nun zum Aufschwung ihren Teil bei. Ich bin den Unternehmensleitungen und den Beschäftigten in den Firmen sehr dankbar für ihre Bereitschaft, gemeinsam den Herausforderungen der schwierigsten Wirtschaftslage seit der Nachkriegszeit zu begegnen, um dafür jetzt gut gerüstet wieder durchstarten zu können. Mit Sorge sehe ich dabei den angekündigten Arbeitsplatzabbau in einzelnen Firmen und hoffe, dass das Schlimmste verhütet werden kann. Mit den Firmen sind wir im Gespräch.
Die Geschehnisse um Stuttgart 21 zeigen, dass besonders bei Großprojekten die begleitende Öffentlichkeitsarbeit wichtig ist, dass die Bedenken und Anregungen aus der Bürgerschaft ernst genommen sein wollen. Dies macht zwar städtische Planungen aufwendig und teurer, aber dafür haben wir bei der Realisierung dann die notwendige Akzeptanz. In Reutlingen haben wir bereits beides beobachten können: Dass eine breite Protestbewegung ein Großprojekt kippen kann, und dass ein Großprojekt ohne breite Protestbewegung möglich ist – wenn man offen und ehrlich mit Informationen umgeht und die Bürgerschaft einbezieht.
Kommunalpolitik in Reutlingen lebt nicht davon, punktuell zu reagieren. Wir bereiten die Arbeit kontinuierlich durch Planungen vor, unter Zuhilfenahme von Fachleuten und selbstverständlich mit Bürgerbeteiligung. So war es mit der Sportentwicklungsplanung, über deren Umsetzung zu diskutieren sein wird, genauso wie bei der Stadtentwicklung auf dem Areal rund um den Hauptbahnhof, bekannt unter City Nord. Dort geht es nach der Bürgerbeteiligung und der Überarbeitung der Preisträger-Entwürfe aus dem Wettbewerb in die nächste Runde. Wir haben uns vorgenommen, ab diesem Jahr ein neues Klimaschutzkonzept zu erarbeiten, begleitet durch ein Klimaschutzforum. Der Auftrag ist bereits erteilt. Und das überraschende Ergebnis des Wohnraumgutachtens verpflichtet uns in positiver Weise, weiterhin so attraktiv für Familien zu bleiben, dass sie nicht aus der Stadt wegziehen, wie das sonst in Großstädten üblich ist, sondern im Gegenteil, dies bestätigt die Analyse, hierher kommen. Das wollen wir auch in Zukunft so haben.
Arbeit steht uns also genügend bevor. Ich freue mich, dass wir dabei auf eine Vielzahl engagierter Bürgerinnen und Bürger, auf Vereine, Wirtschaftspartner und Nachbarn rechnen können. In Reutlingen, der Stadt der Zünfte, Friedrich Lists und Gustav Werners, verknüpft eine tatkräftige Bürgerschaft selbstständiges Handeln, gewerblichen Sinn und soziales Engagement. Das ist unser Pfund, auf das wir weiter bauen sollten.
Sie sind wie immer im Anschluss bei Gebäck und Getränken zu guten Gesprächen eingeladen. Familie Berger gehört zu jener unersetzlichen Sorte von Bürgern in unserer Stadt, die sich mit ihr identifizieren, sich einbringen, Gutes tun – und dies ohne Aufhebens darum zu machen. Die Verköstigung bei unserem Bürgerempfang erfolgt auch in diesem Jahr aus dem eigenen Weinberg und aus der Spende des gesamten leckeren Gebäcks der Vollkornbäckerei Berger, insgesamt ca. 3.700 Stückchen. Mein aufrichtiger Dank, in unser aller Namen, an Sie, liebe Familie Berger, für diese noble Geste, für Ihre tatkräftige und finanzielle Unterstützung.
Vielleicht können Sie ja dadurch der schwäbischen Klugheit weiter auf die Sprünge helfen. Der legendäre Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel hat deren Ursprung klar erkannt. Ich zitiere:
„Der Schwaben Klugheit ist kein Rätsel.
Die Lösung heißt: die Laugenbrezel.
Schon trocken gibt dem Hirn sie Kraft.
Mit Butter wirkt sie fabelhaft.
Erleuchtet mit der Weisheit Fackel,
den Verstand vom größten Dackel.“
Dackel haben wir selbstredend beim Reutlinger Bürgerempfang nicht, schon gar keine, was ja viel schlimmer wäre, Halbdackel.
Und deshalb bedürfen Sie meines Rates sicher nicht, bei denen in diesem Jahr stattfindenden Wahlen das Richtige zu tun – nämlich wählen zu gehen. Dazu habe ich übrigens beim Bürgerempfang immer aufgerufen, wenn Wahlen bevorstanden. Wenn wir die Nachrichten aus unserer afrikanischen Partnerstadt Bouaké an der Elfenbeinküste hören, dann wissen wir, wie dankbar wir sein können für eine stabile Demokratie.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Begleitung und Unterstützung in vielen wichtigen Fragen für unsere Stadt. Lassen Sie uns nicht „Wutbürger“ sein, das Wort des Jahres 2010, sondern „Mutbürger“. Das steht uns in Reutlingen mit seiner Tradition viel besser zu Gesicht.
Ich wünsche Ihnen allen beruflich wie persönlich ein gutes, ein glückliches und gesundes neues Jahr, und freue mich auf viele weitere Begegnungen mit Ihnen. Und vergessen Sie nicht, was uns der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal mit auf den Weg gegeben hat:
„Es gibt bereits alle guten Vorsätze, wir brauchen sie nur noch anzuwenden.“
Viel Erfolg dabei.