- Es gilt das gesprochene Wort -
Grußwort Oberbürgermeisterin Barbara Bosch
- Sehr geehrter Herr Opitz,
- sehr geehrter Herr Dr. Mohr,
- sehr geehrter Herr Klinger,
- sehr geehrter Herr Göttner,
- sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tafel,
- liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Als Hartz IV 2003 eingeführt wurde, gab es in Deutschland bereits mehr als 300 Tafeln. Armut war immer da, sie war nur nicht immer ein öffentliches Gesprächsthema. Denn das Netz der staatlichen Fürsorge hat Lücken. Die Tafeln und andere ehrenamtliche Initiativen – ich denke hier in Reutlingen besonders auch an die Vesperkirche – versuchen mit großem Engagement, diese Lücken auszufüllen. Dass sich die Bürger für ihre Nächsten freiwillig engagieren, ist eine gute Nachricht. Eine Mio. Menschen holen sich in diesem Jahr in Deutschland ihr Essen regelmäßig von den derzeit 833 Tafeln. Die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer können und wollen – und aus meiner Sicht auch sollen – nicht die umfänglichen Aufgaben der Daseinsfürsorge übernehmen. Sie schaffen aber ihren Kunden einen kleinen, wichtigen finanziellen Spielraum, der deren gesellschaftliche Teilhabe etwas verbessert: Geld für ein weiteres Kleidungsstück, vielleicht einen Zirkusbesuch für die Kinder, ein Buch.
Das Prinzip der Tafeln beruht auf einer ebenso genialen wie einfachen Idee: Mangel und
Überfluss werden zusammengebracht. Die Tafeln stellen einen Ausgleich her. Sie transportieren das, was an der einen Stelle nicht mehr gebraucht wird, da hin, wo es noch gut gebraucht werden kann.
Von daher freue ich mich, dass das heutige Jubiläum eine gute Gelegenheit bietet, Ihr Tun erneut ins Rampenlicht zu rücken und für die Anliegen der Reutlinger Tafel zu werben, denn Sponsoren und Helfer werden immer gebraucht, jede Spende sowie jeder neue Mitarbeiter wird stets dankbar willkommen geheißen. Und jeder, der sich beteiligt, kann sicher sein, dass sein Tun unmittelbare Wirkung zeigt.
Das Prinzip funktioniert nach einer einfachen Formel. Jeder gibt, was er kann: Die einen geben Lebensmittel oder auch Spenden, die anderen geben ihre Zeit, ein paar Stunden in der Woche oder im Monat. So wichtig diese Mahlzeiten für Menschen sind, die sich nur selten frisches Obst und Gemüse oder Fleisch leisten können, so wichtig ist auch die soziale Unterstützung, die sie dabei hier in unserer Tafel erfahren. Das Wort vom täglichen Brot hat schon immer mehr bezeichnet als das Backwerk an sich. Es geht sozusagen um „Laib und Seele“.
Mit über 40.000 Ehrenamtlichen sind die Tafeln einer der größten sozialen Bewegungen in Deutschland. Möglich war dieses beeindruckende Wachstum auch, weil sich die Freiwilligen-Organisation konsequent professionalisiert hat. Ihr blieb vor dem Hintergrund sich verschärfender Gesetze z.B. im Lebensmittelrecht auch gar nichts anderes übrig. Genau diese Professionalisierung aber ist andererseits die Gewähr, dass sich Sponsoren weiter engagieren. Verlässlichkeit und Vertrauen in die uneigennützige Verwendung für Bedürftige vor Ort sind erforderlich, damit Geben und Nehmen als Geschäftsbeziehung funktionieren.
Die Existenz der Tafeln kann durchaus ambivalent betrachtet werden. Dass es sie überhaupt gibt, ist Ausdruck von Armut mitten im Reichtum, von Mangel mitten im Überfluss. Offensichtlich schafft es unsere Gesellschaft nicht, die Güter gerecht zu verteilen. Kritiker werfen den Tafeln vor, dass sie Armut normalisierten, einen zu niedrigen Regelsatz von Hartz IV oder der Grundsicherung stabilisierten. Dem ist entgegenzuhalten, dass Tafeln nur eine zusätzliche Hilfe leisten können, keine Grundversorgung. Sie erreichen auch nur einen kleinen Teil der Empfänger staatlicher Transferleistungen. Dennoch wäre es das Beste, wenn es diese Tafeln nicht mehr bräuchte. Die Politik darf sich mit dem Verweis auf die Tafeln nicht aus der Verantwortung ziehen. Keinesfalls dürfen den Leistungsempfängern die Zuwendungen zum Lebensunterhalt gekürzt werden, weil es die Tafeln gibt, oder in den Job-Centern statt Überbrückungsgeld ein Zettel mit den Öffnungszeiten in die Hand gedrückt werden. Vorgänge, über die in einzelnen anderen Bundesländern bereits berichtet worden ist.
Die Kehrseite vom Überfluss ist der Mangel. Nicht unbedingt der Mangel an Essen,
oftmals auch der Mangel an Wissen. Hunger ist in Deutschland nicht ein Problem des Überlebens, aber schon eine Frage der angemessenen Versorgung mit Lebensmitteln. Wer eine Tiefkühlpizza mit einem Grundnahrungsmittel verwechselt, braucht auch noch andere Unterstützung. Er braucht Zuwendung und Rat. Erschreckend ist, dass vermutlich auch in Reutlingen immer mehr Familien mit Kindern kommen, Menschen, die in Vollzeit arbeiten, deren Einkommen aber trotzdem nicht reicht. Diese Zahl wird in Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise nicht so schnell abnehmen. Deshalb bin ich dankbar, dass es die Tafel in Reutlingen gibt. Mein Dank geht deshalb ausdrücklich an Sie alle, die Sie sich für die Tafel und in der Tafel engagieren. Darum hat sich die Stadt auch bereit erklärt, ihren Beitrag zu leisten und unterstützt seit Mitte 2008 mit einem dreifach erhöhten Mietzuschuss und damit insgesamt 22.000 € pro Jahr die gute Sache.
Wer zu den Tafeln kommt, mag arm sein. Würdelos ist er in Reutlingen deshalb keinesfalls. Herzlichen Dank dafür.